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Wider die Ohnmacht

Manuskript für Pax Christi Heft 1 / 2000

Wir werden in der Tagesschau mit erschreckender Regelmäßigkeit visuelle Zeugen kriegerischer Gewalt. Zumeist erscheinen uns die Gewalthandlungen völlig sinnlos. Dem spontanen Wunsch, dem jeweiligen Morden Einhalt zu gebieten, fehlt es heute zumeist an politischen Umsetzungsmöglichkeiten. Dies liegt zum einen daran, daß wir politisch ernüchtert sind und als Friedensengagierte längst nicht mehr einfach den Schuldigen identifizieren und scheinbar guten Gewissens parteilich für Frieden oder genauer für den Sieg der "gerechten" Sache demonstrieren können. Zu ernüchternd ist zum Beispiel die heutige Sicht sog. Befreiungskriege, für die man auf die Straße gegangen war. Die Protagonisten bewaffneter Konflikte haben gelernt, ihre Sicht des Krieges in den Medien zu inszenieren. Auch dieses Wissen macht eine konstruktive politische Reaktion auf die Bilder von Gewalthandlungen schwieriger.

So wichtig und ehrenwert die unter der rot-grünen Regierung intensivierte politische Debatte auch sein mag, die Krisenprävention, friedliche Konfliktbearbeitung, Mediation und humanitäre Intervention angesichts von Völkermord einfordert, gegenüber dem Krieg in Tschetschenien ist sie ohnmächtig. Diese Ohnmacht ist insofern hausgemacht, als Friedensforschung und der Diskurs der Friedensbewegung es versäumt haben, die sich verändernden Ursachen von kriegerischer Gewalt eingehend zu untersuchen. Denn Krisenprävention und friedliche Konfliktbearbeitung bleiben fromme Vokabeln zur eigenen Beruhigung, wenn sie nicht auf intensiver Analyse der Konfliktursachen aufbauen.

Die mit erheblichem zeitlichen Verzug nunmehr auch auf deutsch vorliegenden Studien zur Ökonomie von Bürgerkriegen beleuchten den tiefgreifenden Wandel kriegerischer Gewalt am Ende des 20.Jahrhunderts. Sie belegen, daß sich Kriege zu einer subjektiv alternativlosen Ressource der Reproduktion für zahlreiche Akteure verselbständigt haben. Vielerorts haben sie sich zu einer parasitären Produktionsweise entwickelt, die die Lebensgrundlagen und das Leben der Zivilbevölkerung zerstören. Die Gesellschaften, deren Interessen die kriminellen "Kriegshelden" zu vertreten vorgeben, werden in gegenwärtigen Kriegen gezielt ihrer Lebensgrundlagen beraubt und in das Elend von Flüchtlingslagern getrieben.

Scheinbar weit weg

Abgeschottet hinter den Atomwaffen einer früheren Weltmacht entfaltet sich in Tschetschenien die sich selbst allseitig bestätigende Logik kriegerischer Gewalt. Die langfristig überlegene Militärmachinerie der russischen Föderation hat mit ihrer Kriegsführung Grozny in ein Stalingrad verwandelt und damit einem tschetschenischen Terrorismus erst eine wahrscheinlich auf lange Zeit tragfähige soziale Basis bereitet. Die Kriegshandlungen machen zunächst ideologisch fabrizierte Feindbilder zu sich selbst bewahrheitenden Aussagen. Gewalt wird eingesetzt, um ihre vorgebliche Rechtfertigung.zu produzieren.

Die russische Armee hat lange auf diesen Krieg hingearbeitet. Sie hatte ihn bereits vor den Anschlägen auf Wohnblocks u.a. in Moskau, die von der russischen Regierung tschetschenischen Extremisten zugeschrieben wurden, logistisch vorbereitet. Das häufig zitierte Motiv, sich für die Niederlage im Krieg zwischen 1994 und 1996 zu rächen, dürfte eher nachrangig gewesen sein. Vielmehr suchten die wirtschaftlich ausgezehrten, von Korruption gezeichneten Streitkräfte nach einer Möglichkeit, sich als unverzichtbarer Kern von russischer Staatlichkeit dokumentieren und so ihre Reproduktion in einem desolaten Staatswesen zu sichern. Mit diesem Ziel zahlt man für jeden Einsatztag etwa 35 US-$ an die Soldaten, für russische Verhältnisse ein fürstlicher Sold. Der hohe Einsatz scheint sich gelohnt zu haben. Bereits vor dem ungewissen Ende dieses Krieges haben die Streitkräfte dieses Ziel erreicht. Alle Politiker versprechen einen deutlich höheren Militäretat.

Für die russischen Streitkräfte war es eine günstige Konstellation, daß gegenwärtig im Ringen um die Macht das Versprechen starker zentraler Staatlichkeit bei der großen Mehrheit in Rußland Trumpf zu sein scheint. Die breite Bevölkerung trägt diesen Krieg bislang, weil die latente Zuschreibung von Kriminalitätsneigung gegenüber den Völkern des Kaukasus immer leichtfertiger zur Diskriminierung instrumentalisiert worden war. Im Falle der Tschetschenen erinnert sich jede Russin und jeder Russe zusätzlich an die Terrorakte gegen ein Krankenhaus im russischen Budjennovsk während des ersten Krieges. Nach den feigen Anschläge auf Hochhäuser u.a. in Moskau ist die latente russische Diskriminierung von Tschetschenen in virulenten Haß umgeschlagen. Der Krieg wird als gerechte russische Sache gesehen. Das traurige Resultat dieser Entwicklung schlägt auch auf Rußland selbst zurück. Bereits jetzt darbende russische Rentner, staatliche soziale Dienste und Lehrer werden noch weniger Geld und noch unregelmäßiger ihren monatlichen Scheck erhalten.

Der tschetschenische Irrweg

Auf tschetschenischer Seite glaubte man, daß die Auflösung der Sowjetunion auch dem unter Stalin geschundenen kleinen Volk eine Chance eröffnen würde, eine eigenständige Staatlichkeit nach im 19. Jahrhundert erzwungener Zugehörigkeit zu Rußland auszubilden. Allerdings war es von Anbeginn sehr fraglich, ob auf diesem kleinen Territorium und dem wenig entwickelten Stand der Produktivkräfte, die zudem durch das Transformationschaos der post-sowjetischen russischen Wirtschaft gelähmt waren, die notwendigen Voraussetzungen für ein funktionierendes Staatswesen auf der Grundlage einer vormodernen ethnischen Identität gegeben sein würden. Außerdem war dieses Projekt nationaler Eigenständigkeit auf die Kooperation und letztlich auch Integration der in Tschetschenien lebenden zahlreichen russissch-stämmigen Bevölkerung angewiesen, die in vielen Schlüsselbereichen unverzichtbar war. Gleichwohl wurde Anfang der neunziger Jahre das Projekt Unabhängigkeit zum Fixpunkt des politischen Diskurses, obwohl sie unter den gegebenen politischen Umständen nur mit militärischer Gewalt durchsetzbar war.

Man kann es nur als völlige politische Blindheit beschreiben, mit der die untereinander konkurrierenden, clanartig organisierten Gruppen in Tschetschenien nach dem russischen Rückzug im Jahre 1996 die Herausbildung von einem Minimum an staatlichen Strukturen verhindert haben. Die zentrale Staatlichkeit endete jenseits der Reichweite der Kalaschnikovs der Leibwächter des gewählten Präsidenten. Angehörige von internationalen Hilfsorganisationen, Journalisten und russische Politiker waren in Tschtschenien Freiwild, dessen man sich bemächtigt hat und das als Handelsware getauscht und schließlich meistbietend rückveräußert wurde. Dieser Zerfallsprozeß, der russischen Akteuren die Chancen zu einem zweiten Krieg eröffnet und die tschetschenische Bevölkerung nach Stalins brutaler Vertreibung wiederum in vergleichbares Elend für zwei Generationen geführt hat, wurde von einem international vernetzten religiösen Fanatismus beschleunigt. Eine totalitäre Heilsideologie, die sich auf den Islam beruft, hat die diskriminierte Identität des tschetschenischen Volkes mißbraucht, um ihre Vorstellung von einer vormodernen Gesellschaft mit Gewalt durchzusetzen. Sie bietet für junge Männer, für die es in der von Krieg und Wirtschaftschaos geprägten Zivilgesellschaft unter den gegenwärtigen Verhältnissen keine Perspektive gibt, eine subjektiv sinngebende Rolle als opferbereite Kämpfer für eine "heilige Sache", die ihnen Selbstwertgefühl verleiht.

Einmal in Gang gekommen, dreht sich die Spirale der Gewalt und läßt auf beiden Seiten keinen Raum für differenzierte politische Strategien. Obwohl Rußland gegenwärtig zum letzten entschlossen scheint, dürfte alleine Rußland als übermächtige Konfliktpartei mittelfristig in der Lage sein, pragmatisch nach der alten Weisheit zu handeln, der Klügere gibt nach.

Zum Vorlauf der Tragödie

Will man die Chancen einer mittelfristigen Konfliktlösung ausloten, so muß man zunächst die Überlebensstrategien und Ressourcen der tschetschenischen Bevölkerung ausloten. Dazu bedarf es eines Rückgriffs auf die Geschichte dieser diskriminierten Minderheit. Von Stalin in einer Nacht und Nebelaktion deportiert schaffte nur etwa die Hälfte, für sich ein Überleben in fernen Teilen der Sowjetunion zu organisieren. Dabei war der traditionale und unsowjetische Zusammenhalt in Großfamilien und Clans die wohl wichtigste Überlebensressource. Absolutes Vertrauen untereinander erlaubte es Tschetschenen im Laufe der Jahre in den Grauzonen der sowjetischen Planwirtschaft die Rolle des illegalen Helfers bei Lieferengpässen aller Art zu übernehmen. Daß sie gezwungenermaßen über weite Teile der Sowjetunion verteilt lebten, aber in Clanstrukturen organisiert waren, die für die sowjetischen Sicherheitsagenturen unkontrollierbar blieben, erleichterte es ihnen, in die Rolle eines unverzichtbaren, aber gleichzeitig verachteten illegalen Maklers von knappen Gütern in der gesamten Sowjetunion zu wachsen. Die Rückkehr Ende der fünfziger Jahre in ihre Heimat vollzog sich nur deshalb so reibungslos, weil ihnen Einkommen aus "unsowjetischen" Tätigkeiten zur Verfügung standen. Selbstredend bedeutete die Rückkehr keineswegs die Aufgabe der einträglichen Diaspora, die als informelles Informationsnetzwerk im riesigen Sowjetreich fungierte.

Mit dem Ende der Sowjetunion entfiel der Bedarf an illegalen Transaktionen zur Planerfüllung. Zwar hatten die tschetschenischen "Makler" einen Erfahrungs- und damit Wettbewerbsvorsprung in den sich rasch herausbildenden mehr oder weniger kriminellen Märkten der russischen Ökonomie, aber sie standen sofort in massiver Konkurrenz zu den maffiösen Gruppen, die sich aus den zerfallenden Geheimdiensten gebildet hatten. Aus der Logik dieses Wettbewerbs um kriminelle Aktionsräume mußte ein Rückzugsgebiet eigener Staatlichkeit den tschetschenischen Akteuren der Schwarzmärkte und des Schmuggels als eine attraktive Option erscheinen.

Ein auch in zahlreichen anderen internen Kriegen zu beobachtendes Muster wird hier sichtbar. Die sich als tschetschenisches Volk definierende Gruppe setzt sich aus bodenständiger Bevölkerung und einer in die moderne Ökonomie, häufig kriminell, integrierten Diaspora zusammen. Aus einer widersprüchlichen Verschränkung der unterschiedlichen Interessenlagen und der vielfältigen Diskriminierung wird ein blinder Nationalismus handlungsleitend, auch gegen die ureigensten Interessen großer Teile der Bevölkerung.

Wir sind nicht ohnmächtig

Mit jedem Tag der Fortsetzung dieses Krieges verschlechtern sich die Chancen des tschetschenischen Volkes, ihre Identität auf der Grundlage von Arbeit in einem rechtlich geordneten Gemeinwesen zu leben. Parallel verfestigt sich bei Rußlands Machteliten der Wille, im Zweifel Gewalt als ein unverzichtbares Mittel der Politik einzusetzen. Daher muß es Konsens aller demokratischen Kräfte sein, alle wirksamen Mittel zur schnellstmöglichen Beendigung dieses alle völkerrechtlichen Normen brechenden Krieges einzusetzen. Politiker verstecken sich hinter den russischen Atomwaffen, die unabhängig von diesem Krieg eine Verständigung mit Rußland erforden.

Rußland ist aber ein Akteur, der international akzeptiert werden will, daher werden massenhafter Protest und Kritik an diesem Krieg Wirkung zeigen. Allein bislang ist die Öffentlichkeit im Westen gelähmt. Weder erhalten die russischen Botschafter täglich tausende Protestbriefe, noch hat es bedeutende Demonstrationen gegeben. Es füllt uns offensichtlich immer noch schwer, Kriegshandlungen grundsätzlich zu ächten. Unser Engagement war immer dann groß, wenn wir uns für eine "gerechte" Sache engagieren konnten. Allerdings haben wir es mit einer asymmetrischen Situation zu tun. Einwirkung auf die tschetschenische Partei ist derzeit kaum möglich, da es auf dieser Seite keinen Akteur gibt, der auf internationale Anerkennung hinarbeitet.

Die russische Seite wäre vor allem mit massiven Vorschlägen zu konfrontieren, die die Einhaltung von Menschenrechten am Rande dieses Krieges garantieren könnten. Denkbar wäre die Forderung, befristet absolut neutrale Zonen zu schaffen, in denen internationale Hilfsorganisationen Flüchtlingslager einrichten, die sofort die Rolle der sog. Filtrationslager zu übernehmen hätten. Das internationale Engagement muß so angelegt sein, daß es von keiner der Parteien instrumentalisiert werden kann. Internationale Forderungen müssen so angelegt werden, daß sie von der russischen Bevölkerung nicht als gegen Rußland, sondern einzig für Menschen wahrgenommen werden. Sie müssen von einer breiten Bevölkerung in westlichen Ländern vorgetragen werden, um Wirkung zu zeigen.