Dr. Peter Lock
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letzte Änderung:03.01.2011
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Stichworte aus Anlaß des politischen Abendgebetes in der Katharinenkirche am 18.11.2001 um 18 Uhr

Ich bin Sozialwissenschaftler und möchte einige Beobachtungen, keine Theorie, skizzieren, die vielleicht zum gemeinsamen Nachdenken über eine bessere Politik in Zeiten von Terror und Gegenterror beitragen können. In der Obertertia, der neunten Klasse war mir das Aufsatzthema "Der Klügere gibt nach" gestellt worden. Meine Antwort war zwingend logisch, aber totalitär, fundamentalistisch oder stalinistisch und damit unsinnig zugleich; sie lautete etwa so: Diese fatale Lebensweisheit begründet alles Leid auf dieser Erde, denn würden die Klügeren nie nachgeben, dann wären bestmögliche, also paradiesische Zustände die logische Folge. Was ich nicht begriffen hatte, war, daß es nie die eine Wahrheit gibt, an der sich das Klügere messen ließe. Denn Gesellschaft bedeutet immer verschiedene Wahrheiten. Politik muß es leisten, die verschiedenen Wahrheiten anzuerkennen und die darausentstehenden Konflikte in gegenseitigem Respekt ohne Gewalt so zu bearbeiten, daß ein Miteinander möglich ist. Demokratie bedeutet die friedliche Organisation von verschiedenen Wahrheiten.

Religionen beanspruchen eine Wahrheit. Dies wird immer dann zum Problem, wenn sie zugleich eine gesellschaftliche Ordnung begründen bzw. zur Legitimation von Herrschaft mißbraucht werden. Denn dann gilt die eine Wahrheit und die Logik meines Obertertiaaufsatzes entfaltet eine fatale Wirkungsmächtigkeit. Die derzeit einseitig mißbrauchte Vokabel Fundamentalismus meint den Eine-Wahrheit-Wahn, der auch uns immer wieder auflauert, von dem wir uns immer wieder aufs Neue emanzipieren müssen, wenn das Miteinander gelingen soll. Denn in der Geschichte legitimiert sich alles Morden im Streben nach dem Guten, nach dem einzig Wahren eben. Jeder Versuch, den terroristischen Massenmorden in Kenia, Tansania und jetzt spektakulär in New York und Washington eine politische Handlungslogik zuzuschreiben, die als eine fehlgeleitete Reaktion auf die weltgesellschaftliche soziale Polarisierung erscheint, ist bestenfalls ein hilfloser Ausdruck eigenen schlechten politischen Gewissens. Denn der Handlungshorizont dieses Terrorismus ist zutiefst reaktionär und vor allem gegen Emanzipation im Islam gerichtet. Er zielt auf die Durchsetzung einer Wahrheit, die Morden zur heiligen Pflicht macht.
Die Projektion dieser Wahrheit als gesellschaftliche Utopie ergibt keine überlebensfähige Gesellschaft, zumindest nicht im Diesseits. Der Verweis auf den untauglichen Gesellschaftsentwurf der Taliban mag an dieser Stelle genügen. Es folgt aus dieser Logik, daß sich in der Projektion individueller Lebensentwürfe Diesseits und Jenseits vermischen, daß der Selbstmord um des Mordens für die Wahrheit willen als Vollendung des individuellen Lebensentwurfes möglich wird und höchste gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Es ist Ausdruck einfältiger und autoritärer Religiosität, wenn paternalistisch verfaßte Familien es als besondere Gnade feiern, einen Sohn gehabt zu haben, der für die Wahrheit gestorben ist.
Terrorismus ist der Einsatz unberechenbarer Gewalt zur Erreichung eines vorgestellten politischen Zieles durch Verbreitung von Angst. Ausgangspunkt ist aber in der Regel ein gescheiterter oder unmöglicher politischer Dialog. Am Ende steht die Überzeugung, nur die gewalttätige Durchsetzung der einen eigenen Wahrheit kann zum vorgestellten Guten führen. Terrorismus hat immer eine gesellschaftliche Basis, ohne die er nicht operieren kann. Je aussichtsloser ein politischer Dialog erscheint, umso willkürlicher entfalten sich seine politische Ziele. Der aktionswütige Krieg der Politiker gegen den Terrorismus, zu dem sich zumindest in den Vereinigten Staaten die Politik von einer verängstigten Bevölkerung getrieben sieht, entlädt sich in Afghanistan unter Einsatz seinerseits von terroristischen Mitteln, die gegen Völkerrechtskonventionen verstoßen (Brandbomber, Streubomben). Im hektischen Kampf gegen den Terrorismus überträgt sich dessen politische Logik auf die Bekämpfer. Dabei werden alle Terroristen über einen Kamm geschoren, was nur zur Vermehrung klammheimlicher, irregeleiteter Sympathisanten führt. In Wirklichkeit haben sich auf diesem letzten kargen und zerbombten Schlachtfeld der Ost-West Konfrontation sehr unterschiedliche Terroristen versammelt. Sie stammen überwiegend aus dem arabisch-islamischen Raum. Dazu später mehr. Zunächst zu uns: In Kriegszeiten wird Staatshandeln insgesamt zur geheimen Kommandosache. Der Militärapparat und die anderen Sicherheitsorgane wuchern im Schatten der Geheimhaltung. Die Antwort auf Terror lautet Terror. Nationale Sicherheit tritt an die Stelle der Verfassung. Die Durchsetzung erklärter nationaler Interessen überschreitet moralische und völkerrechtliche Schranken des Handelns. Nach innen erodiert die Rechtsstaatlichkeit. Die Konfrontation wird als total stilisiert und ist daher nicht verhandelbar.

Hierzu wurde in Deutschland die Figur des Schläfers aus dem Hut gezaubert. Es handelt sich um einen beliebig manipulierbaren Generalverdacht, der faktisches Notstandshandeln der Regierenden legitimiert. Die gesamte Gesellschaft wird im Handstreich zu Amateurspitzeln ernannt. Gesellschaftliche Desintegration ist die logische Folge. Sie fördert die kommunikative Isolation von Personen mit einer ideologisch begründeten Gewaltdisposition, während gerade deren Rückführung in alltagsweltliche und politische Diskurse notwendig wäre. Denn ein terroristischer Lebenspfad ist das Produkt der Wahrnehmung eines sozialen Umfeldes und der Weltgesellschaft aus einem erworbenen ideologischen Blickwinkel. Er bleibt jederzeit umkehrbar, der Schlüssel zur Umkehr liegt im Lebensumfeld. In der gegenwärtigen Situation muß daher die politische Aufgabe lauten, der Errichtung eines blinden nationalen Sicherheitsstaates unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung entgegenzutreten. Dies setzt voraus, daß es gelingt, das Ursachenbündel des aktuellen Terrorismus aufzuspüren, um daraus politische Alternativen zum "Krieg gegen den Terrorismus" und Optionen für eine gerechtere Weltordnung zu entwickeln.

Die arabische Welt und bedeutende islamische Staaten sind seit Jahrzehnten von autoritär-diktatorische Regimen geprägt. Die westliche Politik hat diese Regime mit Ausnahme Libyens massiv gestützt und in Krisen mit militärischen Mitteln und Sicherheitspersonal versorgt. Beispiel: die Revolte in Mekka. Diese Politik war in den Fällen des Iran, Iraks und Syriens so konterproduktiv, daß dort nun diktatorische Regime gegen den Westen gerichtete Politik betreiben. Die Staaten des Mittleren Ostens (ohne Irak,Syrien und Iran) haben in den letzen zehn Jahren 91 Mrd. US-Dollar Rüstungsgüter allein aus den USA erhalten. Aus der Perspektive demokratischer Opposition gegen die autoritären Eliten besteht westliche Politik ausschließlich aus Rohstoffinteressen und Unterstützung Israels. Der Preis hemmungsloser Energieverschwendung in den USA ist Abhängigkeit von einer menschenrechtsverachtenden Diktatur, die von einer Familie hinter einer theokratischen Fassade kontrolliert wird.

Im Kontext des Kalten Krieges hatten die Potentaten des Mittleren Ostens und Nordafrikas eher Angst vor einer säkularen Opposition. Daher waren religiös-fundamentalistische Tendenzen in ihren Anfängen zunächst höchst willkommen, weil sie als ein Bollwerk gegen alle Formen linker Opposition wahrgenommen wurden. Im "heiligen" Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan förderten die Eliten noch die islamischen Legionen und diese kämpften noch Schulter an Schulter mit den USA. In der Folge sind diese religiös-fundamentalistischen Netzwerke jedoch zu einer Bedrohung der Regime geworden und werden mit brutal repressiven Mitteln bekämpft. Angesichts der durchgängig brutalen Unterdrückung von Opposition ist es nicht verwunderlich, daß die bedrängten und nach Veränderung suchenden Mittelklassen und das Bildungsbürgertum in der Moral religiöser Orientierung ein Vehikel zu gesellschaftlicher Veränderung sahen. Da die "Demokratien" des Westens autoritäre Regime mit allen Mitteln förderten, schien nicht die Demokratie, sondern die Errichtung eines islamischen Staates einzig eine Möglichkeit zu bieten, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Diese Haltung wurde durch den Golfkrieg und seine Folgen verstärkt. Obsiegte ein "islamisches" Projekt in der Wahlurne, wie in Algerien, dann optierte der Westen für putschende Generäle. Das hat im Bewußtsein von Islamisten eine Verschiebung der Täterrolle von den eigenen Machteliten auf den Westen, die USA, die Moderne, den Kapitalismus befördert. Aus einem nationalen politischen Kampf wurde so ein internationalistisches Projekt. Ein Blick auf Saudi Arabien verdeutlicht die explosive Dynamik, die von den mehr oder weniger diktatorisch verfaßten arabischen Staaten ausgeht. Dieses Land ist auf dem Wege zu einem von Amerikanern und Briten militärisch besetzten Staat, in dem es keine institutionalisierte Politik gibt. Die Selbstlegitimation des herrschenden Klans hat die Figur eines Gottesstaates, der sich freilich längst zu einer Apartheidsdiktatur entwickelt hat. Die religiöse Folie einer fundamentalistischen Variante des Islam fungiert als Staatsdoktrin, die willkürliche Repression legitimiert. Die Erdölrente erlaubt zum Machterhalt einerseits den Einsatz korruptiver Einbindung und andererseits massive polizeistaatliche Mittel bis hin zu Verstümmelung und Todesstrafe. Von den gut 20 Millionen Bewohnern sind etwa sieben Millionen weitgehend rechtlose Migrationsarbeiter, überwiegend Männer ohne Familie. Frauen sind fast vollständig vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, was sich im Verbot, ein Auto zu steuern, plakativ manifestiert. Aber von religiösen Unruhen bedroht hat sich der herrschende Klan nicht gescheut, auf militärische Dienstleistungen westlicher Staaten zurückzugreifen (Mekka 1979).

Die Widersprüche in dieser Gesellschaft verschärfen sich rasant. Fast achtzig Prozent der saudischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Ein erheblicher Teil der jungen Menschen durchläuft eine Hochschulausbildung, häufig auch an führenden Universitäten in westlichen Ländern. Auf dem weiteren Lebenspfad jedoch gibt es keine politische Artikulationsmöglichkeit und immer weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die den Erwartungen entsprechen. Als Perspektive bleibt vom Renteneinkommen der Familie zu leben. In Abwesenheit von politischen Institutionen bleiben als Ort politischer Artikulation die Moschee und das Exil. In der Moschee kann man einen Gottesstaat nur kritisieren, indem man ihm Blasphemie oder Abweichung von der reinen Lehre vorwirft, während man im Exil auch säkulare Kritik äußern kann. Aus der Perspektive religiös begründeter Opposition ist das Staatshandeln des herrschenden Klans Sünde, die ihre Ursachen in der Kollaboration mit dem Bösen (Kapitalismus, USA, Westen etc.) hat. Aber auch die religiös begründete Opposition trifft auf einen als Religionspolizei agierenden Klerus, der in Abhängigkeit zu den Herrschenden steht, so daß sich säkulare und religiöse Opposition aus der gesamten arabischen Welt gemeinsam im Exil wiederfinden. Um sich den Entstehungsbedingungen des offensichtlich leistungsfähigen Netzwerkes von Terroristen zu nähern, dem der 11.September zugeschrieben wird, gilt es diese in der Diaspora lebende Personengruppe in Augenschein zu nehmen. Es sind dies die mangels normaler sozial-ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten in diesen autoritären, überwiegend staatskapitalistisch organisierten Regimen zur Emigration gedrängten gebildeten jungen Menschen. Sie leben in westlichen Industriestaaten. Die Unmöglichkeit sich in ihren Herkunftsländern politisch zu artikulieren, macht sie anfällig für abenteuerliche fundamentalistische Projekte totaler politischer Veränderung, die das Übel in der Übermacht der westliche Industriestaaten, repräsentiert durch die USA, sehen. Der politische Diskurswird auf der Ebene der reinen Lehre des Islam geführt. Dies hat seine politische Logik darin, daß die Gegenseite u.a. die saudische Herrscherclique ebenfalls Religion zum Zwecke des Machterhalts instrumentalisiert und Demokratie westlichen Zuschnitts als neo-koloniale kapitalistische Manipulation wahrgenommen wird. Daher hat es für frustrierte, weil politisch ausgeschlossene westlich Gebildete eine bestechende Logik, wenn man seinen eigenen Anspruch auf politische Teilhabe in radikale religiöse Opposition kleidet und die Herrschenden der Blasphemie zeiht. Dieses religiöse Konstrukt erlaubt es zugleich, zu allererst gegen einen äußeren Feind zu mobilisieren und sich dadurch an die Spitze einer breiten latent anti-westlichen Grundstimmung zu setzen. Das Fatale an diesen verzweifelten Versuchen politischer Mitsprache in den Herkunftsländern in geheimbündelnder, massiv unterdrückter Opposition aus der Diaspora heraus ist, daß der pseudo-religiöse politische Diskurs keine Plattform bietet, konkrete Strategien gesellschaftlicher und politischer Veränderungen zu entwickeln. So entsteht eine sich radikalisierende politische Bewegung ohne realistisches Konzept für eine Änderung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. An die Stelle eines alternativen politischen Projektes tritt eine unrealistische Vision von einer an religiösen Vorstellungen ausgerichteten vormodernen islamischen Gesellschaft. Diese Vision verliert ihren konkreten gesellschaftlichen Bezug vor allem dadurch, daß sie den Charakter einer pan-islamischen Befreiungsdoktrin annimmt.

Es gibt keinen konkreten politischen Interessen- bzw. Veranwortungshorizont mehr, an dem sich die terroristischen Akte orientieren müßten. Die diffuse internationalistischen Zielsetzungen entziehen die Akte terroristischer Gewalt empirischer Überprüfbarkeit. Mythenbildung ersetzt die Realität. Zugleich aber fordert der Gewaltmythos mehr noch als reale Gewaltakte die machtpolitische Konsolidierung ihres Gegenpols, der mit dem westlichen Kapitalismus verschwägerten Diktaturen. Die totalitäre Organisation terroristischer Gruppen reproduziert sich gesellschaftlich zudem durch den systemisch angelegten Opportunismus der PolitikerInnen in Demokratien unter dem Deckmantel vordergründiger Terrorismusbekämpfung. Wenn politische Heilsvorstellungen, die sich nur im Jenseits erfüllen, politisches Handeln dominieren, dann verliert die politische Bewegung ihre Fähigkeit einen Diskurs über ihre Strategie zu führen. Denn Jenseitiges läßt sich nicht falsifizieren. Im Gewächshaus derartiger Ideologien kommt es dann zur völligen Entgrenzung der Mittel zur Erreichung des fundamentalistischen Zieles. Nicht die weltweit himmelschreiende Armut, sondern die Unfähigkeit, das Miteinander verschiedener Wahrheiten zu organisieren und einen Konsens zu finden, ist die Ursache der scheinbar absoluten Konfrontation.

All dies muß man in Hinblick auf Entstehung und operative Reichweite abgrenzen, von jenen zehntausenden junger Männern aus vielen arabischen und islamisch geprägten Ländern, in denen häufig mehr als die Hälfte aller jungen Menschen keine Chance auf eine reguläre Erwerbsarbeit haben, für die die Rolle als Söldner in der Maske eines Gotteskriegers das in der Heimat verweigerte Selbstbewußtsein schafft. Ihr Lebens- und Operationsraum sind zerfallene Staaten an der Peripherie des globalen Systems. Mehr als zehntausend von ihnen sitzen nun aussichtslos in Afghanistan in einer Falle, die zu ihrer Ermordung führen wird, wenn nicht rasch internationale Solidarität für diese "Armutsterroristen", die nur mit der "Kalishnikov" umzugehen gelernt haben, ein Resozialisierungsprogramm für diese tragische Gruppe junger Männer durchsetzt. Ein christliches Gebot wäre es allemal.