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letzte Änderung:03.01.2011
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Notiz zu: Kriegsökonomien

Betreff: ICRC > war, money and survival, Projekt einer deutschen Version
Datum: 22.07.00 (gekürzte Version)

Vorbemerkung: In dieser Notiz skizziere ich Form und Inhalt dieser Publikation, die inhaltlich von Gill Carbonnier, Volkswirt und Mitarbeiter des ICRC in Genf koordiniert und herausgegeben wurde. Gleichzeitig versuche ich eine Positionsbestimmung dieser Veröffentlichung im Kontext der sozialwissenschaftlichen Diskurse über bewaffnete Konflikte und humanitäre Hilfe bzw. Interventionen und begründe, weshalb es mir geboten erscheint, sich um eine deutsche Version zu bemühen. Letzteres habe ich in der Vergangenheit wiederholt mit gutem Erfolg bei interessanten fremdsprachlichen Veröffentlichungen zu Themen getan, die im Bereich meiner Forschungskompetenz liegen. So u.a. das Buch "Ökonomie der Bürgerkriege" bei der Hamburger Edition.
Im weiteren diskutiere ich mögliche Varianten einer Anpassung der sehr aufwendig gestalteten englischen Version an das kulturelle Milieu einer potentiellen deutschen Leserschaft und versuche eine Einschätzung möglicher Zielgruppen.
Schließlich protokolliere ich den Stand der Erkundungen und Verhandlungen mit dem ICRC und dem Deutschen Roten Kreuz.

Form der Publikation: Es handelt sich um die zweite Veröffentlichung in der Reihe FORUM des ICRC, die darauf ausgerichtet ist, jeweils einen neuen Aspekt das Gebiet humanitärer Hilfe betreffend umfassend zu diskutieren. Sie umfaßt 110 Seiten und ist in einem ungewöhnlichen Format (21 x 26cm) graphisch aufwendig gestaltet, mit ca. 80 Photos in unterschiedlichen Formaten, davon einige farbig, zusätzlich einige Graphiken und Karten (Papier mind. 120 g matt glänzend). Es ist eine Eigenveröffentlichung des ICRC und wird zum Preis von 18 SFr vertrieben und zusätzlich wohl gezielt verteilt.

Zum Inhalt von "war, money and survival" in der Reihe FORUM des ICRC: Der Titel dieser Publikation benennt ohne Umschweife prägende Dimensionen, die in zunehmendem Maße die Überlebensstrategien großer Teile der in Konfliktregionen lebenden Menschen bestimmen. Er kennzeichnet somit auch die operativen Felder humanitärer Einsätze, die immer schwieriger werden und inzwischen große Risiken für die MitarbeiterInnen in sich bergen. Er macht zugleich anschaulich, was in gegenwärtigen sozialwissenscahftlichen Diskursen als "neue Kriege"(Kaldor), "complex emergencies" bzw. Bürgerkriege diskutiert wird.

Die Veröffentlichung enthält 25, zum Teil wohltuend kurze Beiträge aus der Feder sowohl von führenden Vertretern des internationalen sozialwissenschaftlichen Diskurses über "neue Kriege" als auch von "Praktikern", die bei humanitären Einsätzen in oft kritischen Situationen Erfahrungen gesammelt haben. Der Leser wird in vier Abschnitten durch die komplexen Probleme geführt: Globalisierung und Krieg; Geld und Krieg; Überleben und Krieg; Internationale Hilfe. In den jeweiligen Abschnitten finden sich sowohl analytische Beiträge als auch Reflexionen am Beispiel konkret beobachteter kritischer Situationen. Der Herausgeber hat mit großem Erfolg alle AutorInnen auf eine klare, allgemein verständliche Sprache verpflichtet, so daß dieses Buch ohne spezielle Vorkenntnisse gelesen werden kann. Dennoch vermittelt es den neuesten Stand der sozialwissenschaftlichen Diskussion in seiner z.T. pluralistischen Vielfalt.
"Das Vertändnis der Wechselwirkungen zwischen Krieg und Ökonomie ist zentral für humanitäre Organsisationen, die sich mit dem sich wandelnden Charakter von Kriegen auseinandersetzen müssen. Um negative Nebeneffekte zu vermeiden und die potentiellen Vorteile von Hilfe zu maximieren, müssen humanitäre Einsätze auf das sorgfältigste durchdacht werden. Dies erfordert tiefgehende Einsichten in die Mechanismen, mit denen Menschen um ihr Überleben kämpfen, verknüpft mit gründlicher Kenntnis der wirtschaftlichen Dynamik, die Kriege in der heutigen, globalisierten Welt bestimmen." Mit diesen Worten formuliert der Herausgeber die Aufgabenstellung des Bandes.
Im Abschnitt Globalisierung und Krieg wird die Gleichzeitigkeit von sich fortwährender Erweiterung der Integration in die Weltökonomie und Ausschluß vieler Gesellschaften und ganzer Regionen thematisiert. Die Einkommensschere öffnet sich weiter, während ganze Regionen Opfer verbreiteter Gewalt, gescheiterter Entwicklung und politischer Instabilität werden, die sich in einen Zustand zirkulärer Verursachung transformieren.
Zaki Laidi konstatiert im einleitenden Beitrag zwei gegenläufige Tendenzen im Hinblick auf das gegenwärtige Kriegsgeschehen. "Globalisierung ist daher ein Prozeß, der zur Deregulierung von Kriegen und zu all den unmenschlichen Grausamkeiten führt. Zugleich aber ermöglicht sie das Entstehen eines globalen Gewissens und globaler Verhaltensweisen, die dahin tendieren, die Respektierung menschlicher Grundrechte des Individuums zu fördern."

Gill Carbonnier arbeitet sehr sorgfältig die oft eklatanten Widersprüche zwischen den politischen und wirtschaftlichen Anforderungen heraus, die die internationale Gemeinschaft als Bedingungen für die Gewährung von Unterstützung stellt. Krisenbewältigung wird so für die jeweils vor Ort politisch Verantwortlichen zur Quadratur des Kreises.
Schließlich wird am Beispiel der Jugoslawiens für den Zeitraum des Krieges in Bosnien gezeigt, welche zumeist kontraproduktiven Wirkungen wirtschaftliche Sanktionen haben.

Der zweite Abschnitt Geld und Krieg bildet den Kern des ganzen Textes. Einleitend skizziert Jean-Christophe Rufin seine "neue Theorie" bewaffneter Konflikte, die den Ausgangspunkt gegenwärtiger Diskurse in den Sozialwissenschaften bildet. Zentral für diesen Ansatz ist die Beobachtung, daß die kriegführenden Parteien nach dem Ende des Kalten Krieges die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ihre Kriegführung selbst generieren, also notwendig als (Kriegs-)Unternehmer agieren müssen. Am Beispiel Berbera (Somalia) wird gezeigt, daß wirtschaftliche Interessen sowohl konfliktfördernde als auch friedensstiftende Wirkung haben können. David Keen erläutert an verschiedenen afrikanischen Beispielen die ökonomische Rationalität, von der die verschiedensten Gewaltakteure zu Handlungen getrieben werden, die wir als puren Wahnsinn wahrnehmen. Thandika Mkandawire relativiert die scheinbare Stringenz des Keenschen Modells mit der ökonomischen Rationalität als Triebkraft für bewaffnete Gewalt. Soziologisch haben die bewaffneten Konflikte in Afrika ihren Ursprung im urbanen Raum, gleichwohl werden sie zunächst in ländlichen Räumen ausgetragen. Dies erklärt, daß die bewaffneten Konflikte in Afrika nichts mit dem Bilde von den Fischen im Wasser für die klassische Guerilla gemein haben. Richard Nossal gibt einen Überblick über private Unternehmen, die als militärische Dienstleister im vergangenen Jahrzehnt in bewaffneten Konflikten in Erscheinung getreten sind. Jean Philippe Ceppi beschreibt anschaulich, an welchen kommerziellen Transaktionen die verschiedenen Gewaltakteure beteiligt und wer die Geschäftspartner sind, die als Bindeglied zum Weltmarkt agieren. John J. Maresca diskutiert engagiert die Rolle, die vor allem Rohstoffkonzerne im Kontext bewaffneter Konflikte spielen. Seine Schlußfolgerung lautet, wenn bestimmte Regeln beachtet werden, kommt diesen Unternehmen eine unverzichtbare Rolle bei der Bewältigung humanitärer Krisen zu. "Die Übereinstimmung der Interessen zwischen den humanitären Organisationen und den wirtschaftlichen Akteuren ist sehr breit angelegt." ... "Weltweite Stabilität ist ein Ziel, das der globalen Geschäftswelt, den humanitären Organisationen und vor allem denjenigen, die unter Konflikten leiden, gemeinsam ist." Phillippe Spicher verweist auf die häufig ungleichen Dimensionen zwischen multi-nationalen Konzernen und Staaten, die von bewaffneten Konflikten geprägt sind. Die Umsätze vieler Konzerne übersteigen das Bruttosozialprodukt der Staaten in Konfliktregionen nicht selten um ein Vielfaches. Die häufig reklamierte Trennung von Politik und Wirtschaft ist nicht haltbar. Zwei politische Strategien im Hinblick auf die Rolle von multi-nationalen Unternehmen in Konflikten werden alternativ diskutiert: Konstruktive Einmischung und Rückzug aus Konfliktregionen. Spicher plädiert für eine kontinuierliche Bewertung der Folgen wirtschaftlichen Engagements in Krisenregionen und kann sich vorstellen, daß humanitäre Organisationen und Unternehmen hier einen gemeinsamen Nenner finden (Die gegenwärtige Diskussion um ein neues Diamantenregime scheint Spicher zu bestätigen.). Edward Giradet schließlich analysiert schonungslos den "humanitären Markt", auf dem sich eine kontinuierlich steigende Zahl an häufig unerfahrenen Organisationen tummelt. Sie alle entwickeln das Eigeninteresse ihrer Reproduktion. Im Kosovo haben sich allein im Gesundheitssektor 150 Organisationen weitgehend ohne wirkliche Bedarfsanalyse und Koordination vor Ort betätigt. Giradet beschreibt anschaulich die sekundären Märkte, die sich aus der Massierung und Konkurrenz humaniäter Organisationen bereits gebildet haben. Robin Davis beendet den zweiten Abschnitt mit der ernüchternden Feststellung, daß humanitäre Hilfe nicht länger eine altruistische Aktivität ist. Vielmehr bedienen sich die Staaten im Zusammenhang mit sog. komplexen Krisen jeweils verschiedener Nichtregierungsorganisationen, um ihre verdeckten politischen Ziele durchzusetzen. Der Umfang staatlicher Zuschüsse an die betreffenden Nichtregierungsorganisationen kann als Indikator für diese Instrumentalisierung gelten. Daß es in diesem Umfeld zahlreichen Kriegsakteuren gelingt, sich wesentliche Teile der humanitären Hilfe anzueignen und in eine zentrale Ressource der Kriegführung zu transformieren, wird spiegelbildlich reflektiert. Hilfsorganisationen sind in der Lage. ihre eigene Bedeutung in Konflikten häufig auf subtile Weise steuern und ein entsprechendes Presseecho zu manipulieren. Der zweite Abschnitt endet mit einem Bericht über die relativ gelungene Koordination der humanitären Hilfsleistungen in East-Timor, soweit die den Gesundheitssektor betreffen.

Überleben und Krieg ist der dritte Abschnitt überschrieben. In ihm wird die soziale und wirtschaftliche Dynamik anhand von umfangreichen Feldbeobachtungen beschrieben, die von Flüchtlingen ausgeht, auch wenn sie zunächst als vermeintlich apathische Flüchtlinge, als "Betreuungsopfer" der internationalen Hilfsindustrie in Erscheinung treten. Mark Cutts, von der Forschungsabteilung des UNHCR arbeitet den Gegensatz zwischen dem typischen Medienporträt eines Flüchtlings in einem Lager und dem zähen Streben nach Eigenständigkeit dieser Menschen heraus. Geld ist das instrumentelle Medium, Eigenständigkeit und Würde wieder zu erlangen. Eine typische und keineswegs notwendig konterproduktive Methode zu Geld zu kommen, ist der Weiterverkauf von Hilfsgütern aller Art. Diese Erscheinung deutet jedoch keineswegs auf Überfluß, meist ist es Ausdruck der Verzweiflung und Suche nach Auswegen aus der Ohnmacht. Andere typische, freilich erniedrigende Praktiken sind Betteln und Prostitution. Das Spektrum der Betätigungen schließt freilich auch kriminelle Aktivitäten ein, vor allem Drogenhandel und Waffenschmuggel. Eine wichtiger, häufig von der Hilfsindustrie wenig beachteter Faktor sind die legalen und illegalen Arbeitsmigranten, die der gleichen sozialen Gruppe wie die Flüchtlinge gehören und sofort vielfältige Verbindungen zu den Flüchtlingen aufnehmen. Jalil Shams zeichnet die fatalen Auswirkungen des langen Krieges auf die Sozialstruktur und die Entwicklung des Drogensektors zum dominanten Wrtschaftssektor in Afghanistan nach. Massive Emigration und Diskriminierung von Minderheiten und Frauen durch einen manipulativen Rekurs auf den Islam kennzeichnen die ungebremste Talfahrt des Landes. Alesandro Monsutti stellt die Ergebnisse umfangreicher Feldforschung innerhalb der weltweit verstreuten Diaspora Afghanistans vor und skizziert, die komplexen, aber leistungsfähigen informellen Transfermechanismen, derer sich die Diaspora bedient, um die im Lande verbliebenen Teile des jeweiligen Clans bzw. Familienverbundes zu unterstützen. Der Zyklus Geld-Ware-Geld wird bei diesen Transfers mehrfach durchlaufen. Weitere Beobachtungen zu Überlebensstrategien im Umfeld von bewaffneten Konflikten: Sierra Leone und Sahara folgen. François Grunewald mahnt die Hilfsindustrie, immer die Würde der betroffenen Menschen im Auge zu behalten, denn sie ist eine Voraussetzung zur Konfliktbewältigung und Selbsthilfe.

Der vierte Abschnitt behandelt das Thema internationale Hilfe. Mitte der neunziger Jahre wurde immer drängender die Frage an Hilfsorganisationen gestellt, ob sie sicherstellen könnten, daß sie durch ihre Interventionen keinen Schaden anrichten. Dahinter stand die empirisch angereicherte Befürchtung, daß Hilfe von außen die empfindlichen Mechanismen der eigenständigen Krisenbewältigung zerstören und lokale Gruppen gegeneinander aufgebracht oder ausgespielt werden könnten. Ebenso wurde die Gefahr der Schaffung langfristiger Abhängigkeiten gesehen und in einigen Fällen sogar die Vermutung geäußert, daß humanitäre Hilfe Kriege verlängert, indem sie als wirtschaftliche Ressource durch die kriegführenden Parteien mißbraucht wird. Als Schlußfolgerung ergab sich, daß Hilfsorganisationen große Anstrengungen zu unternehmen hätten, um die lokalen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen besser zu verstehen. Daraus entwickelte sich langsam ein Strategiewandel bei zahlreichen humanitären Organisationen. Allerdings bedeutet die zunehmende Berücksichtigung der komplexen Realitäten auch eine vollständige Auflösung der Trennung zwischen Nothilfe und Entwicklungshilfe. Robin Davies illustriert die Komplexität der praktischen Entscheidungen und Abwägungen, die humanitäre Organisation vor Ort treffen müssen. Z.B. welches Niveau der Korruption ist bei der Durchführung von Nothilfe noch akzeptabel? In welchem Umfang kann man die informelle Ökonomie tolerieren, wann muß man auf die vollständige Einhaltung der staatlichen Regeln dringen? Wichtig zur Bewältigung dieser subtilen Abwägungen ist es, daß jede Organisation eine klare "Exit-Strategie" hat, denn andernfalls droht man im Geflecht der Eigeninteressen der Organisation und den fatalen Anforderung vor Ort unterzugehen. Sylvie Brunel und Jean-Luc Bodin, beide mit langer Erfahrung in humanitären Hilfseinsätzen ausgestattet, diskutieren anschaulich die enormen Schwierigkeiten, vor die Hilfsorganisationen gestellt sind, wenn sie sich dem Mandat verpflichtet fühlen, ohne Ansehen des politischen, religiösen oder ethnischen Kontextes Menschen in Not zu helfen. Da diese Nothilfe in den letzten Jahren weitgehend in die Hände privater Nichtregierungsorganisationen gelegt worden ist, während sich Staaten zunehmend scheuen, sich direkt diesen Aufgaben zu stellen, befinden sich diese Organisationen in einer unmittelbaren Ressourcenkonkurrenz, was zu einer noch vor wenigen Jahren undenkbaren Professionalisierung und letztlich auch Kommerzialisierung der Hilfsindustrie geführt hat, die in ihrer Reproduktion von der medialen Präsentation humanitärer Krisen abhängig ist. Die beiden AutorInnen sehen eine große Gefahr darin, daß eine Verregelung humanitärer Hilfe, die sich abzeichnet, politisch und sozial abweichende gesellschaftliche Kontexte von humanitärer Hilfe ausschließen könnte. Alain Mourey diskutiert den langsamen Strategiewandel beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz vom Ziel der unmittelbaren Überlebenssicherung hin zur nachhaltigen Sicherung von Lebensunterhalt. Das Ziel muß ökonomische Sicherheit lauten, entsprechend kann humanitäre Hilfe nur als kohärentes Element innerhalb eines umfassenden Krisenmanagements geleistet werden. Schließlich erläutert der Leiter der Post-Conflict Unit der Weltbank deren Strategien im Umgang mit durch bewaffnete Konflikte destabilisierten Regionen.

Richard Dowden, der Leiter der Afrikaredaktion ders "Economist" faßt in einem gelungenen Aufsatz die Erkenntnisse der vorliegenden Studien zusammen. Unausweichlich ist die Erkenntnis, daß heute kein bewaffneter Konflikt mehr weit genug weg von unserer gesicherten Lebenssphäre ist , als daß sich unser Anspruch humanitäre Zielen verpflichtet zu sein, nicht an ihm messen müßte. Was wir als "reiche" Beobachter des Elends vor allem lernen müssen, daß noch die elendigste Gestalt, die uns die Medien präsentieren, danach strebt, eine eigenständige Zukunft zu finden, deren Voraussetzung Würde und Selbstachtung sind.

Einordnung des Textes in die laufenden Diskurse: Das ICRC hat in den vergangenen Jahren wiederholt formuliert, z.B. im Weltkatastrophenbericht 1997, daß sich die Zustände in Konfliktregionen zunehmend den Regeln des Kriegsvölkerrechtes, vor allem des ius in bello, entziehen und als Folge das Rote Kreuz sein Mandat nicht wahrnehmen kann. Unter anderem weil die Parteien die reklamierte Neutralität des Roten Kreuzes nicht respektieren. Auf der Suche nach neuen Wegen ist dieses Buch entstanden, in dem führende Fachwissenschaftler und Praktiker der Nothilfe zum Wort kommen. Das Buch besticht durch die Ehrlichkeit mit der die relative Hilflosigkeit der Hilfsindustrie herausgearbeitet wird. Die Beiträge sind keineswegs homogen und spiegeln so aber die allgemeine Verunsicherung wieder. Lediglich in einem Punkt sind sich alle AutorInnen einig, Nothilfe muß auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Durch die vom Herausgeber erfolgreich eingeforderte klare und allgemeinverständliche Sprache und Kürze aller Beiträge ist das Buch darauf angelegt, eine Diskussion zwischen der Hilfsindustrie und der Öffentlichkeit bzw. den Spendern zu befördern. Dieser Diskurs scheint dringend geboten, damit bei aller medienbestimmten Hektik und der zunehmenden Professionalisierung der Organisation humanitärer Hilfe nicht das eigentliche Ziel, humanitäre Werthaltungen real zu leben, nicht aus dem Blickfeld gerät.

Nach der teilweise medial manipulierten Erfahrung mit der Flüchtlingssituation im Kosovo, wo kaum einer der möglichen, in diesem Buch skizzierten Fehler ausgelassen wurde, erscheint es politisch hilfreich, dieses Buch in deutscher Sprache bereitzustellen. Zielgruppen wären m.E. das Umfeld der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich, der entwicklungspolitische Diskurs allgemein und das bürgerliche, kirchliche Spenderpublikum. Die Lektüre dieses Buches trägt dazu bei, den medialen, geradezu hypnotisierenden Katastrophenmeldungen mit kritischen Fragen zu begegnen und verhindert, daß man der falschen, Fatalismus fördernden Sichtweise des Amerikaners Kaplan erliegt, der die gegenwärtigen Kriege in Afrika als totales Chaos beschreibt, das sich rationaler Politik verweigert. Menschenwürde und allgemeine Menschenrechte bilden den gemeinsamen normativen Rahmen aller Beiträge des Buches. Mir ist keine deutsche Publikation bekannt, die in vergleichbarer Weise "kritisches empowerment" vermittelt.

Format einer deutschen Fassung: Die englische Ausgabe ist drucktechnisch außerordentlich aufwendig und dürfte sich mit den Vorstellungen eines Teils des deutschen Publikums, wie denn ein das "Elend der Welt" beschreibendes Buch zu gestalten ist, reiben. Vom Umfang des Textes eignet sich ein Taschenbuchformat evtll. mit einer begrenzten Anzahl der Bilder aus dem Original. Da die englische Ausgabe graphisch sehr verschwenderisch mit dem Raum umgeht, dürfte man mit unter 150 Seiten in einer deutschen Taschenbuchausgabe auskommen.

Hamburg, 22. Juli 2000 Peter Lock