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letzte Änderung:03.01.2011
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Bespechungsnotiz

1. William B. Quandt, Between Ballots and Bullets Aleriais Transition from Authoritarianism, New York (Broookings Institution Press) 1998, 199 S.

2. Werner Ruf, Die algerische Tragödie, Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft, Monster (agenda) 1997, 170 S.

3. Luis Martinez, La guerre civile en Algerie, Paris (...Editions Karthala) 1998, 429 S.

Alle drei Autoren versuchen der angesichts scheinbar irrationaler Gewalt in Algerien teilweise verwirrten und resignativen Öffentlichkeit einen Zugang zu jener Entwicklung zu schaffen, die zumeist als diffuser und grausamer Bürgerkrieg beschrieben wird. William B. Quandt gilt im angelsächsischen Raum als führender Algerienexperte, der seit den siebziger Jahren u.a. in verschiedenen "think tanks" politikberatend wirkt. Dieses neue Buch ist im Kontext der Brookings Institution entstanden. Werner Ruf ist Hochschullehrer in Kassel und hat seit den siebziger Jahren regelmäßig Veröffentlichungen zur Entwicklung im Maghreb vorgelegt. Luis Martinez ist Forschungsmitarbeiter am Centre d'études et des recherches internationales und hat mit Zeitschriftenbeiträgen seit 1995 entscheidend zu einem besseren Verständnis der Vorgänge in Algerien beigetragen.

1. Quandt erläutert bereits im Titel, daß er der Frage nachgehen will, ob es in Algerien einen Weg zu einer demokratischen Ordnung gibt. Er teilt sein knappes Buch in zwei Abschnitte: eine überblicksartige Darstellung der politischen Geschichte Algeriens und eine politische Analyse der jüngsten Geschichte. Die Darstellung der Geschichte wendet sich an einen wenig informierten Leser, zugleich ist sie auf die in der folgenden Analyse herangezogenen Aspekte ausgerichtet. Die politische Analyse konzentriert sich auf kulturelle, soziale, ökonomische und vor allem politisch-institutionelle Faktoren. Folgende Besonderheiten Algeriens streicht Quandt heraus. Der Stunde Null der algerischen Unabhängigkeit, eines agrarisch strukturierten Landes, dessen Bevölkerung von den französischen Kolonialherren kaum Bildungsmöglichkeiten eingeräumt worden waren, folgte eine staatsgeleitede Entwicklung im Kontext einer sozialistisch geprägten Ideologie, die trotz aller Korruption bis heute im internationalen Vergleich nur eine moderate Ungleichverteilung zugelassen hat. Die algerische Identität ist das Produkt des kolonialen Befreiungskrieges, alle anderen religiösen und ethnischen Unterschiede sind dieser gewonnenen Identität nachgeordnet.

Die Entwicklung des unabhängigen Algeriens ist durch eine Land-Stadt Migration und durch ein hohes Bevölkerungswachstum geprägt. Letzteres ist auch das Ergebnis umfassender öffentlicher Infrastrukturleistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung. Die Erschöpfung des Industrialisierungsmodells der Importsubstitution in Verbindung mit dem erheblichen Rückgang der Erdöleinkünfte hat zu einer schweren wirtschaftlichen Krise geführt, deren Opfer ungefähr die Hälfte aller jungen Menschen ist, die keine Chance haben, eine geregelte Erwerbsmöglichkeit in der regulären Wirtschaft zu finden. Diese Gruppe bildet das Potential für Gewaltakteure, die in den vergangenen Jahren die Entwicklung in Algerien gelähmt haben. Nach Einschätzung des Autors sind die Streitkräfte allerdings eindeutig dabei, die Oberhand in den gewaltförmigen Auseinandersetzungen zu gewinnen.

Während die bislang erwähnten Aspekte von Quandt nur beschrieben, aber nicht wirklich auf ihre Ursachen untersucht werden, liegt der Schwerpunkt dieses Buches auf der politisch-institutionellen Entwicklung Algeriens in den letzten zehn Jahren. Beginnend mit der demokratischen Öffnung unter Präsident Chadli Benjedid wird die politische Entwicklung vergleichend unter Rückgriff auf die amerikanische politologische Demokratiediskussion und globale Visionen à la Huntington kritisch durchleuchtet. Dabei fixiert sich Quandt darauf, daß die Krise 1991 und die Annulierung der Wahl durch das Militär durch einen unglücklichen des Wahlmodus provoziert wurde und die Entwicklung einen gänzlich anderen Verlauf genommen hätte, wenn das Wahlverfahren an das Verhältniswahlrecht angelehnt gewesen wäre.

Gleichwohl ist Quandt davon überzeugt, daß die sich abzeichnende soziale Differenzierung, die mit den wirtschaftlichen Reformen einhergeht, eine Politisierung des öffentlichen Diskurses befördert und daß es auf diese Weise auf mittlere Frist gelingen wird, demokratischere Steuerungsmechanismen in Algerien zu entwickeln. Er widerspricht in diesem Punkt vehement allen deterministischen Thesen den Islam betreffend und verweist auf den bereits laufenden dynamischen sozialen Differenzierungsprozeß. Angst macht ihm jedoch die "verlorene Generation", die keinen Zugang zur regulären Ökonomie gefunden hat. Aber nicht ohne wahrscheinlich ungewolltem Zynismus macht er als perspektivisch stabilisierenden Faktor aus, daß diese die politische Stabilität gefährdende Alterskohorte, die keinen Zugang zu stabilen Ressourcen findet, um eine Familie zu gründen, etwa "ab 2015 in den Ruhestand treten wird" (S.163). In einem solchen Zeithorizont, ist sich Quandt sicher, wird Algerien sich zu einem demokratisch gesteuerten Staat entwickeln.

Quandt wagt eine politologische Projektion einer positiven Entwicklung Algeriens. Er vermag dabei aber nicht wirklich zu überzeugen, weil seiner eigenen Einschätzung, daß soziale und ökonomische Faktoren und die Auseinandersetzung um Ressourcen in zentraler Weise die algerische Entwicklung bestimmt haben (S.122), nur eine viel zu knappe Bearbeitung vor allem der wirtschaftlichen Strukturen und ihrer Entwicklungsperspektiven folgt. Man hätte gerne schon etwas genauer gewußt, auf welcher wirtschaftlichen Grundlage sich der von ihm erwartete Differenzierungs- und Demokratisierungsprozeß entwickeln wird und welche Möglichkeiten sich Algerien über Rohstoff- und Menschenexport hinaus in der Weltwirtschaft bieten. Trotz dieses gewichtigen Mangels ist das Buch ein Beitrag zur Entdämonisierung arabischer und islamischer Gesellschaften in modischen westlichen Denkschulen, die im Windschatten von Huntingtons Thesen die gewaltförmigen Konflikte in Algerien als Indiz für eine totalitäre Bedrohung westlicher Gesellschaften durch den Islam halten. Diese politische Stoßrichtung des Buches auf ein breiteres Publikum gerichtet rechtfertigt schließlich auch die sehr knappe Form der Darstellung eines hochkomplexen Gegenstandes.

2. Der Titel "Die algerische Tragödie", den Ruf seiner gründlichen Einführung in die gegenwärtigen algerischen Verhältnisse gegeben hat, verweist zum einen darauf, daß Ruf anders als Quandt keine Lösung durch eine inkrementalistische Fortschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse erwartet und zum anderen deutet er die Enttäuschung des Verfassers bezüglich seiner einst gehegten Erwartungen an den algerischen Entwicklungsweg an. Der gewaltträchtige Konflikt in Algerien kann, so die Einschätzung des Verfassers, nur politisch aufgelöst werden. Er glaubt, daß der herrschende diktatorische Streitkräfteclan zu einer politischen Öffnung nicht fähig ist. Alternativ setzt er auf eine Konsolidierung der zersplitterten Opposition, die seiner Einschätzung zufolge durch eine Verschärfung der Repression mittelfristig befördert wird. Das Licht am Ende des Tunnels ist eine vollständige Zusammenführung des Opposition nach dem Muster des gescheiterten ersten Versuches in Rom im Jahre 1995. Ruf arbeitet den französischen Siedlerkolonialismus als Ausgangspunkt des spezifischen algerischen Entwicklungsweges heraus, der zu einer intensiven gegenseitigen Durchdringung der algerischen und französischen Gesellschaften geführt hat, die mit der aggressiven Arabisierung des öffentlichen Lebens durch die militärischen Machthaber keineswegs aufgehoben wurde. Er untersucht die mit dem Siedlerkolonialismus verbundenen wechselseitigen Migrationsprozesse eingehend auf ihre Bedeutung für die gegenwärtige politische Konfiguration. Es gelingt ihm zu zeigen, daß selbst noch die Namensgebung radikaler islamischer Gruppierungen deutliche Spuren der Durchdringung der politischen Kultur Algeriens mit französischer republikanischer Tradition wiederspiegelt. In derartigen Affinitäten und der real existierenden soziologischen Durchdringung sieht er Anknüpfungspunkte einer politischen Auflösung der gewaltförmigen Konfrontation jenseits der radikalen, antagonistischen Positionen, die als scheinbar unauflösbare ideologische Vorgaben das äußere Bild Algeriens bestimmen.

Die besondere institutionelle Nähe der Siedlerkolonie Algerien zu Frankreich, die die muselmanische Bevölkerung in beiden Weltkriegen in die Schützengräben geführt hat, und ihre dramatische, von Gewalt geprägte Auflösung der Kolonie haben in einem pathologischen gesellschaftlichen Lernprozeß eine politische Kultur der Gewalt zum prägenden Merkmal des schlecht vorbereitet 1962 in die Unabhängigkeit entlassenen Staates gemacht (S.28). Die heutige häufig rassistische Diskriminierung der aus Algerien stammenden Wohnbevölkerung in Frankreich hat zur völligen Ausgrenzung besonders der Jugendlichen geführt, die auf der Suche nach Identität in islamischer Militanz eine Heimat finden. Ruf verweist auf Parallelen zu den "Black Panther" in den USA (S.41). Das Fehlen politisch partizipativer Antworten auf die kollektiv erfahrene Ausgrenzung verbindet die Jugenlichen algerischer Abstammung in Frankreich mit den von der regulären Ökonomie ebenfalls ausgegrenzten jugendlichen Massen in Algerien. Trotz objektiv verschiedener Interessenlage finden beide Gruppen in einer totalitär angelegten Ideologie, die sich auf den Islam beruft, eine identitätsstiftende Handlungsleitung. Gewalt erscheint als das legitime Mittel, die eigene Ausgrenzung durch absolute Dominanz, ja sogar völlige Eliminierung der "anderen" zu ersetzen. Es gelingt Ruf überzeugend, die Differenziertheit der sozialen Basis islamistischer Militanz aufzuzeigen. Aus eben diesen sehr unterschiedlichen Interessenlagen ergeben sich nahezu zwangsläufig Ansatzpunkte, die eine politische Auflösung der sich totalitär präsentierenden Konfliktformation.

Die gesellschaftliche Entwicklung in Algerien sieht Ruf geprägt von der ständigen dichotomischen Polarisierung zwischen einer westlichen, geradezu plutokratischen Schicht, die diktatorisch die Fäden der Macht in der Hand hält und einer sozial abgekoppelten, oberflächlich arabisch-islamisch sozialisierten, von den Zugängen zu sozialen Privilegien ausgeschlossenen Schicht (S.69). In seiner Kritik der gescheiterten Industrialisierung hebt er auf die bedingungslose Strategie der Machterhaltung der Elite ab und sieht auch in dem Entschuldungsabkommen mit dem IWF einen Ausverkauf algerischer Interessen zugunsten des Machterhalts.

Zum eigentlichen Verlauf des Bürgerkrieges trägt Ruf eine große Menge z.T. widersprüchlicher Informationen zusammen, die es erlauben, die Oberfläche einer scheinbaren bi-polaren Konfrontation nach der Annulierung der Wahlen im Jahre 1992 in ein Geflecht unterschiedlicher Gewaltakteure zu zerlegen. Dennoch muß man seiner fast pathetischen Feststellung nicht unbedingt folgen, daß "der Krieg in Algerien kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg der bewaffneten Akteure gegen die Bürger — und nicht zuletzt gegen die Bürgerinnen." (S.121). Dem sich hinter dieser Feststellung verbergenden idealtypischen Bild eines "Bürger"krieges dürfte realgeschichtlich kaum ein innergesellschaftlicher Konflikt entsprechen.

Insoweit die Konflikte in Algerien zunehmend (?) mit terroristischen Mitteln ausgetragen werden, entziehen sie sich politischen Lösungsansätzen. Terrorismus ist die Antithese zur Politik. Ruf setzt darauf, daß aus der Verschärfung der Konfrontation eine Konsolidierung der zersplitterten Opposition folgt, die er als Voraussetzung für eine politische Auflösung der fortgesetzten Gewalt sieht. Eine politische Öffnung des Regimes durch Integration einzelner sozialer Gruppen schließt er aus.

Genau an diesem Punkt setzt der Autor des dritten hier zu besprechenden Buches an. Mit seinen mikrosoziologischen Beobachtungen erschließt sich Martinez Einsichten in die Verschränkung von regulären und illegalen ökonomischen Kreisläufen, die zu sich ständig ändernden und manchmal überraschenden Interessenallianzen formieren und Ansatzpunkte für eine Transformation des Regimes liefern. Die besondere Leistung der Herangehensweise von Ruf liegt in der überzeugenden Darlegung der politisch-kulturellen und soziologischen Verschränkung aller algerischen Akteure mit Frankreich. Martinez hingegen besticht durch die präzise Analyse der unterschiedlichen Situationen auf der Mikroebene, aus der heraus er eine gut nachvollziehbare Gesamtsicht des Konfliktverlaufes entwickelt.

3. Luis Martinez hat eine umfassende Darstellung der gegenwärtigen algerischen Gesellschaft vorgelegt, in sie in immer neuen Schnitten gründlich seziert und nach historischen Wurzeln der gegenwärtigen Ereignisse gesucht wird. Auf der Grundlage eigener Feldforschungen untersucht Martinez mit besonderer Sorgfalt Entstehung und handlungswirksame Entfaltung von ideologischen Positionen einzelner Akteursgruppen und arbeitet heraus, daß die meisten Gewalthandlungen von ökonomischer Instrumentalität bestimmt sind. Sie werden befördert durch das kollektive historische Gedächtnis, in dem kriegerische Handlungen, gleich ob im Kontext des Kolonialismus oder der nationalen Befreiung, als Mittel des sozialen Aufstiegs und neuer Elitenbildung verankert sind. Wo Ruf eine "Kultur der Gewalt" ausmacht, sieht Martinez instrumentelle Gewalt, die jeweils zur Neuformierung der innergesellschaftlichen sozialen Pyramide geführt hat und damit durchaus positiv besetzt ist (S.28 + 36). Martinez räumt aber auch ein, daß sich in vielen Fällen die ideologischen Konstrukte verselbständigen, die Realität ausblenden und zu weitgehend willkürlichem Handeln und häufig eben auch Morden führen. Dem Buch liegt eine Dissertation zugrunde, die in einem diskursiven Umfeld entstanden ist, das mit den Namen von Jean-François Bayart, Stephen Ellis, Beatrice Hibou, Achille Mbembe und anderen gekennzeichnet ist. Sie alle beschäftigen sich mit dem Zerfall des Staates in Afrika und den entstehenden alternativen gesellschaftlichen Organisationsformen, die an die Stelle des staatlichen Gewaltmonopols und eines rechtlich gesicherten Marktes treten.

In einer ausführlichen methodischen Einführung formuliert Martinez sein erkenntnisleitendes Interesse. Er will die realen Differenzierungen innerhalb jeweilig sich homogen präsentierender Bürgerkriegsparteien ausleuchten. Anhand von Daten zur sozialen Schichtung zeigt er zum Beispiel, daß die gängige Wahrnehmung, die die achtziger Jahre als Niedergang gegenüber den "goldenen Zeiten" unter Boumediène kennzeichnet, einer Überprüfung nicht standhält. Dennoch aber war es eben diese Selbstwahrnehmung, die zum Auslöser sozialer Unruhen wurde, die 1988 in einem Massaker kulminierten und schließlich eine Phase der demokratischen Öffnung bis zur Annulierung der Wahlen im Januar 1992 einleiteten.

Das dynamische Wachstum der FIS (islamische Heilsfront, die bei den Komunalwahlen 1990 bereits sehr erfolgreich gewesen war) erklärt Martinez aus einer pragmatischen Allianz von im wesentlichen vier Gruppen. Eine Gruppe sehr reicher Unternehmer, die er als Militärunternehmer bezeichnet, weil sie ihre Position ausschließlich ihrer aktiven Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg und dem daraus abgeleiteten, überwiegend korruptiven Zugriff auf staatliche Ressourcen verdanken; Kleinhändlern, die in einer ökonomischen Grauzone agierend beständig mit Schutzgeldforderungen staatlicher Hoheitsträger konfrontiert waren; die wachsenden Alterskohorten arbeitsloser Jugendlicher, die als "hittistes" (Mauerstützer durch Anlehnen) bezeichnet werden; und schließlich der Kern aus tatsächlich militant Gläubigen. Ihr gemeinsames Projekt ist die Übernahme der Machtpositionen der FLN, um den perzipierten Niedergang Algeriens umzukehren. Vor allem die nach der Arabisierung des Ausbildungssystems diplomierten akademischen Arbeitslosen sahen in einem straff organisierten islamischen Staat ihren zukünftigen Arbeitgeber. Die Kleinhändler erwarteten vom islamischen Staat vor allem eine Legalisierung ihres Status. Allen gemeinsam ist das Interesse an freiem Marktgeschehen, denn auch die Jugendlichen haben zumeist Erfahrungen als individuelle Importhändler (trabendo) auf informellen Märkten. Ein Widerspruch zum starken islamischen Staat wird nicht gesehen. Die Umsetzung dieser Projektion des neuen islamischen Algerien erfordert, den "Krieg" gegen die laizistischen und frankophonen Eliten des bestehenden Systems erfolgreich zu führen. Die Einschätzung, daß es sich bei der Wählerschaft der FIS um sehr unterschiedliche Interessengruppen gehandelt hatte, die sich lediglich in der ideologischen Negation des bestehenden Staates trafen, wird durch die Unfähigkeit der FIS bestätigt, nach dem Verbot und der Verhaftungswelle mit kohärenten Massenprotesten zu reagieren. Die willkürlichen Hetzjagden der staatlichen Sicherheitsorgane gegen "hittistes" sowohl bereits 1988 als auch verstärkt nach dem Verbot der FIS, wo immer man ihrer habhaft werden konnte, hat eindeutig die Disposition zur Gewalt befördert und der Vorstellung einer totalen Konfrontation, nur vergleichbar mit dem Befreiungskrieg, Vorschub geleistet. Die MIA (mouvement islamique armé) und die GIA (groupement islamique armé) konnten sich dort, wo sie im Hinterland einen Fokus gebildet hatten, vor Freiwilligen kaum retten und schickten die meisten Jugendlichen zurück in die Vorstädte. Dort entwickeln sie Formen lokaler Gewaltkontrolle unter einem diffusen islamischen Banner. Diese Gewaltakteure verselbständigen sich politisch völlig und bilden jeweils unter der Führung eines fast noch jugendlichen "Emirs" konkurrierende, territorial beschränkte gewalt- und wirtschaftskriminelle Vereinigungen.

Während die islamistische Massenerhebung ausbleibt, wächst die Zahl der unterschiedlichen im Untergrund kämpfenden oppositionellen Gewaltformationen, die gegenüber der lokalen Bevölkerung in Konkurrenz zueinander agieren. Die staatlichen Gewaltakteure schüren zusätzlich und vorsätzlich das Klima allgemeiner Verunsicherung. Dazu gehört, daß sie vor Ort regelhaft die Zivilbevölkerung erpressen. Das Regime versuchte, die Situation u.a. mit Hilfe der Geheimpolizei und massenhaften Verhaftungen aller erfaßten politischen Funktionsträger der FIS unter Kontrolle zu bringen. Indem so die lokalen Funktionseliten, die einzig politisch hätten handeln können, auf breiter Front eliminiert wurden, wurde ein Vakuum geschaffen, das die neuen jugendlichen Gewaltakteure in Gestalt der territorialen Emire auszufüllen begannen.

Die weitere Entwicklung nach 1993 untersucht Martinez im zweiten und dritten Teil seiner Studie. Das Problem, einen andauernden Bürgerkrieg zu untersuchen, der sich dadurch auszeichnet, daß die Kriegsakteure gemeinsam daraufhin gewirkt haben, daß eine, anderen Kriegsschauplätzen vergleichbare Presseberichterstattung nicht möglich ist, löst Martinez durch eine Verschränkung von prägnanten Zitaten aus Interviews, die er mit unterschiedlichen Akteuren in verschiedenen Jahren geführt hat, mit einer von der Mikroebene ausgehenden Analyse der zum Teil sehr dynamischen ökonomischen Zirkulation, deren Parameter die algerisch-französische Verflechtung ebenso wie global-ökonomisch bestimmte Handlungsspielräume des herrschenden Regimes einschließen. Das auf diese Weise extrahierte Bild der algerischen Konstellation als eine Auseinandersetzung um sozialen Aufstieg (S.369) erweist sich als sehr realitätstüchtig, insofern es hilft, die scheinbar unendliche Dauer der gewaltförmigen Konfrontation zu erklären.

Es ist das Verdienst von Martinez, das Auge für die kaum mehr politisch abgeleitete Rolle der "Emire" als lokale Gewaltakteure geschärft zu haben. Seine Beschreibung der relativen Konsolidierung von "gewaltgestützten Emiraten" in Zonen, die bereits zuvor durch informelle Ökonomie und Schmuggel aller Art gekennzeichnet waren, führt eine ökonomisch determinierte Handlungsorientierung jenseits des "heiligen Krieges" gegen das Regime in das scheinbar unentwirrbare Konfliktszenario ein, die von anderen Beobachtern vernachlässigt worden ist. In einem Regime, dessen Exekutive grundsätzlich der Korruption zugänglich ist, sind jene neuen "Emire" in der Lage, ihre direkten und mittelbaren ökonomischen Interessen korruptiv und wenn notwendig mit Gewaltmitteln durchzusetzen und so eine informelle und überwiegend illegale wirtschaftliche Dynamik in Gang zu setzen, die mit der wirtschaftlichen Liberalisierung aufgrund des IWF-Abkommens durchaus verträglich ist bzw. sie geradezu zu nutzen weiß. Martinez entwickelt die Kriegslogik der verschiedenen bewaffneten islamistischen Banden und kann so die geographischen Konzentrationen der Gewaltakte erklären. Da sind zum einen die auf beschränkte Territorialität fixierten "Emire" im Umfeld von Algier. Die Guerrilla von GIA, MIA und MEI (mouvement pour l'état islamique) ist gegen den FLN-Staat und seine Usurpatoren gerichtet. Sie verüben Sabotageakte vor allem gegen den staatlichen Wirtschaftssektor, lassen aber den privaten Sektor gewähren und schaffen so günstige Bedingungen für private Unternehmer, u.a. im Transportsektor. Ebenso bislang ausgespart bleiben Erdöl und Erdgas, denn sie bilden die unverzichtbare Ressource für den anvisierten islamischen Staat, die man nicht zerstören, sondern übernehmen will. In anderen lange andauernden Bürgerkriegen ist der Erdölsektor fast immer das Ziel militärischer Operationen.

Ein subtiler Wandel der Interessen einzelner Akteursgruppen entwickelt sich mit der 1994 als Auflage des IWF eingeleiteten Privatisierung weiter Bereiche der Wirtschaft. Die damit neu eröffnete bzw. auch legalisierte Sphäre privater Akkumulation und Bereicherung macht den Bürgerkrieg für zahlreiche Gruppen profitabel, indem er neben der gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zerstörung die private Aneignung von Staatseigentum und eine dynamische Konzentration wirtschaftlicher Macht erlaubt. Aus der anfänglich gewalttätigen Opposition gegen das Regime haben sich verschiedenartige Gruppen von Gewaltakteuren gebildet, deren Handlungsorientierung sich immer mehr auf wirtschaftliche Zielsetzungen ausrichten. Die Palette derartiger Aktivitäten ist weit gefächert und reicht von Auftragsmorden bzw. —attentaten über Schutzgelderpressung bis hin zu Drogenhandel. Dabei handelt es sich um Anpassungsprozesse an die sich ändernde Situation, wie z.B. Flucht der Schutzgeldopfer aus dem Territorium, größeres Risiko wegen gestiegener Leistungsfähigkeit der staatlichen Sicherheitsorgane. Eine makabre Folge der wirtschaftlichen Öffnung und der schrittweisen Einführung von Marktwirtschaft im Jahre 1994 ist die (wirtschaftliche) Konsolidierung der bewaffneten islamistischen Gruppen. Daß vor allem diese Gruppen von den Neuerungen profitiert haben, lag nicht zuletzt daran, daß sie sowohl in Frankreich als auch in Algerien über eine operative Basis verfügten und so profitable Dreiecksgeschäfte unterschiedlichster Art abwickeln konnten.

Im Verlauf des Konfliktes hat es auf staatlicher Seite bedeutende Veränderungen gegeben. Martinez arbeitet die wesentlichen Neuerungen in ihrer Differenziertheit heraus. Meist wird übersehen, daß die Wirtschaftspolitik des Regimes den Interessen eines wesentlichen Teils der FIS-Klientel, den Kleinhändlern weit entgegenkommt. Im engeren Bereich der inneren Sicherheit sind zu nennen: eine Schwerpunktsetzung der Streitkräfte beim systematischen Aufbau von Anti-Terroreinheiten, die es bis 1992 nicht gab; Pensionierung traditionellen Personals zugunsten massiver Rekrutierung im traditionellen Einzugsbereich der bewaffneten islamistischen Formationen; Bildung von Selbstschutzmilizen im ländlichen Bereich; Rekrutierung von lokaler Hilfsmiliz; Entstehung leistungsfähiger privater Sicherheitsdienste (Banken), was die bewaffneten Gruppen zwingt, andere Formen der Geldbeschaffung als Banküberfälle zu entwickeln; Aufstellung kommunaler Garden, die die Innenstädte gegen ein erneutes Einsickern von Gewaltakteuren sichern, nachdem die Anti-Terroreinheiten dort die Oberhand gewonnen hatten; schließlich die private Rekrutierung von Schutzpersonal im Geschäftssektor. Aus der Makroperspektive stellt sich die Entwicklung als ein großes Bündel von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Sicherheitsbereich dar, die einer nicht unbeträchtlichen Zahl aus dem Einzugsbereich der "hittistes" erstmals eine Rolle in der Gesellschaft zuweisen. Aber alle diese Rollen sind kriegsbedingt und bieten keine zivile Perspektive. Auch die Streitkräfte profitieren vom Konflikt, was sich unter anderem darin manifestiert, daß sie als einziger Teil des Staatsapparates der erzwungenen Strukturanpassung ausgenommen bleiben. Angesichts der allseitigen Effektivierung der militärischen Formationen in diesem Konflikt und der sichtbar werdenden ökonomischen Verwurzelung der Gewaltakteure stellt Martinez die Frage: Alles zusammegenommen, sind die islamistischen Gruppen und die Militärs nicht dabei zu werden, die in der Gewalt des Krieges die Mittel gefunden haben, ihre Wünsche zu erfüllen? (S.259).

Folgerichtig überschreibt er den dritten Teil seiner Untersuchung mit "Die Konsolidierung des Krieges". Zweifelsohne war die Umschuldung ein wichtiger Beitrag zur Konsolidierung des Regimes. Sie hat es dem Regime ermöglicht, in großem Umfang Jugendliche im Sicherheitsbereich zu rekrutieren und ein massives Wohnungsbauprogramm aufzulegen. Während zunächst eine großer Teil der Bevölkerung der Perspektive eines islamischen Staates große Sympathien entgegenbrachte, hat die politische Verselbständigung der Gewaltakteure in Gestalt der lokalen Emire, nicht wenige wieder zu Unterstützern des Regimes werden lassen, weil man zunehmend die Befürchtung hegen mußte, daß der "djihâd", der heilige Krieg zu einem Zusammenbruch des algerischen Staates und keineswegs zu einem starken islamischen Staat führen würde. (S.299). Martinez trägt sorgfältig zusammen, was über Ursprung und sich verändernde Handlungsorientierungen der sich immer weiter aufspaltenden Gruppierungen, die untereinander um das Monopol des richtigen Kampfes, des bekannt geworden ist. Die verschiedenen Prägungen der nationalen Psyche, also auch der französischen Dimension algerischer Identität, spiegeln sich in den ideologischen Differenzen der zahlreichen bewaffneten Formationen. Deutlich wird dies an dem Anspruch der GIA, einen "totalen" Befreiungskrieg gegen eine fremde laizistische Machtclique zu führen, der legitimatorisch mit dem Unabhängigkeitskampf auf eine Stufe gestellt wird. Es überschreitet dem Rahmen dieser Notiz, die Charakterisierung der einzelnen Formationen nachzuzeichnen. Hingegen gilt es festzuhalten, daß es in der Logik der zu Banditen gewordenen Kämpfer des liegt, mitsamt den angeeigneten Reichtümern nach einer legalen Rolle zu streben. Die historisch immer wiederkehrende Transformation des Banditen in einen Politiker scheint sich ansatzweise zu wiederholen und vielfältige Verflechtungen zwischen den antagonistischen Gewaltakteuren (Armee und Guerrilla) zu generieren. Die immer wieder betonte Instrumentalität scheinbar sinnloser Gewaltakte für das herrschende Regime wäre u.a. hier einzuordnen. Jedenfalls scheint die augenscheinliche wirtschaftliche Konsolidierung der Guerrilla auch diverse Ansatzpunkte einer Politisierung des Konfliktes hervorzubringen. Im letzten Kapitel seiner Untersuchung entwickelt Martinez zwei Varianten der weiteren Entwicklung. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß die politische Führung der ehemaligen FIS weitgehend an Verhandlungsmacht verloren hat, weil sie keinerlei Kontrolle über die diversen islamischen Guerrillaformationen hat. Mehr noch, als von der franko-algerischen Kultur geprägte Elite müssen sie ihre eigene Marginalisierung gewärtigen, sollte etwa die totalitäre islamische Vision der GIA obsiegen. Darüberhinaus haben die von der FLN-Elite betriebene Depolitisierung des Konfliktes und die gezielten ökonomischen Offerten, z.B. an die Kleinhändler, Wirkung gezeigt. Daraus folgt, daß dieser Personenkreis mit dem Regime perspektivisch mit dem Ziel einer Kooptierung verhandeln wird. Jedoch sieht Martinez auch innerhalb der Machteliten des gegenwärtigen Regimes eine mögliche Bruchlinie zwischen den "Heroen des Unabhängigkeitskrieges", die nach wie vor entscheidende Positionen innehaben und der neuen militärischen Elite, die aus Bürgerkrieg heraus ein neues eigenes Profil gewonnen hat und aus dem professionell geführten Anti-Terrorkampf (S.342) wesentlich realitätstüchtigere, genaue Kenntnisse der realen gesellschaftlichen Verhältnisse in Algerien hat. Die zur Aufklärung eingesetzte Armada von Agenten, die sich im Aussehen (Bart!) als FIS-Anhänger ausgeben, haben nicht nur ein Klima allgemeiner Verunsicherung geschaffen, sondern eben auch die Akkumulation von genauen Kenntnissen der gesellschaftlichen Entwicklung zur Verfügung der Offiziere dieser "neuen Kriegsgeneration" generiert.

Gleichzeitig ist anzunehmen, daß diese aktive Offiziersschicht die internationale mediale Präsentation des Bürgerkrieges, einschließlich des terroristischen Bedrohungspotentials in Frankreich einzusetzen weiß, um den internationalen privaten und öffentlichen Ressourcenzufluß zu optimieren. Brutal verkürzt heißt das, ein wenig Terror tut Not, um die "islamische Rente" (S.363) einzustreichen. Auf der Gegenseite gibt es Anzeichen, daß lokale "Emire" eine derart zentrale Rolle in der Reproduktion "ihrer" Kommune, die sich aus dem Zusammenspiel von regulärer und illegaler Okonomie ergibt, eingenommen haben, daß sie als Garanten einer relativen sozialen Stabilisierung zum politischen Verhandlungspartner des Regimes aufsteigen können. Parallel aber bleibt das Regime auf die totale terroristische Bedrohung u.a. durch die GIA angewiesen. "Die Existenz der Guerrilla erlaubt es der Präsidentschaft, die politischen Parteien seiner Autorität zu unterwerfen und sich jeweils neue Partner auszusuchen. Fünf Jahre nach dem Abbruch der Parlamentswahlen im Jahre 1991 hat es das Regime erreicht, das unmittelbare Risiko hinweggefegt zu werden, zu einer finanziellen Stärke in Form der auswärtigen Hilfe im Kampf gegen die zu verwandeln. " (S.368).

Im Jahre 1997 sieht Martinez keine der Konfliktparteien entscheidend geschwächt und daher auch nicht politik- bzw. kompromißbereit. Der Bedarf an militärischem, privatem und oppositionellem Sicherheitspersonal saugt nach wie vor das explosive Potential der in die zivile Perspektivlosigkeit wachsenden großen Alterskohorten auf. Notwendige, wenngleich keineswegs hinreichende Voraussetzung für eine Fortschreibung dieser fragilen Stabilität ist der Sachverhalt, daß der Erdölsektor bislang von keiner Konfliktpartei ernsthaft attackiert wird. Im Hinblick auf die Perspektiven, den Bürgerkrieg zu beenden, ist Martinez skeptisch. "Die sozialen Wandlungen, die zu beobachten sind, entwickeln sich in Richtung auf eine allgemeine Ausbreitung des Waffenhandwerks mit der Begleiterscheinung, daß Gewalt zunehmend privat ausgeübt wird. Die gegenwärtigen Neuorientierungen in der Politik führen nicht in Richtung eines Prozesses der nationalen Versöhnung, sondern zur Konsolidierung der Macht." (S.375). Ohne einen qualitativen Wandel "scheint Algerien fest in einem Abnutzungskrieg verankert zu sein." Ende einerseits offen, andererseits bleibt das Modell der Elitenreproduktion durch Gewalt in Algerien bestimmend.

Längst nicht alle präzisen Beobachtungen und historischen Verweise konnten in diesem Hinweis auf Martinez' Buch verarbeitet werden, obwohl sie im weiteren Diskurs über die Entwicklung in Algerien mit großer Sicherheit eine Rolle spielen werden. Vielmehr wurde versucht, Martinez' originären Beitrag zum Verständnis des andauernden Krieges in Algerien herauszuarbeiten. Sein Blick durch den gesamtgesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Wahnsinn dieses Krieges auf die vor allem wirtschaftliche Rationalität des fortgesetzten Konfliktes aus der Perspektive nicht weniger Akteure leitet die Kriegsursachenforschung in einen bislang weitgehend vernachlässigten Bereich, indem das Kriegsgeschehen der innergesellschaftlichen Konflikte als eine besondere Produktionsweise untersucht wird. Diese Produktionsweise entwickelt sich vor allem in zerfallenden Staaten, in denen wirtschaftliche Transaktionen aller Art nur noch gewaltgesteuert möglich sind. Am algerischen Beispiel erweist sich dieser innovative Ansatz als enorm produktiv. Er erweist sich als leistungsfähiger Schlüssel zur Erklärung der verwirrenden Vorgänge und scheinbaren Widersprüche in Algerien.

Zusammen mit den Studien von Bayart, Bigo, Hibou, Jean, Marchal, Rufin im französischen Sprachraum, von Duffield, Ellis, Keen, Reno, Waal im englischen Sprachraum und schließlich Elwert, v. Trotha im deutschen Sprachraum scheint sich eine neue erklärungsmächtige politische Ökonomie gegenwärtiger innergesellschaftlicher bewaffneter Konflikte herauszubilden, die die bislang zumeist in makro- quantitativer Komparatistik erstarrte Kriegsursachenforschung voranbringen kann. Dies ist deshalb von großer praxeologischer Relevanz, weil sich die internationale Gemeinschaft in zunehmendem Maße unter Druck sieht, in innergesellschaftliche Konflikte präventiv, schlichtend oder mit humanitärer Zielsetzung einzugreifen. Die bisherige Bilanz derartiger Aktionen ist nicht zuletzt deshalb so schlecht, weil es an dem notwendigen analytischem Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse fehlt, die zum gewaltförmigen Austrag von Konflikten führen, der sich nicht selten eigendynamisch als quasi- Produktionsweise verstetigt.

Was Martinez' Studie zum algerischen Bürgerkrieg so wertvoll macht, ist ihr methodischer Modellcharakter. Man ist unmittelbar angeregt, das Untersuchungsinstrumentarium bzw. die Fragestellungen auf Bürgerkriege in der ehemaligen Sowjetunion anzuwenden, um zu weniger exotischen Thesen ihrer Verursachung zu gelangen, als sie überwiegend in den entsprechenden Regionalstudien angeboten werden.

4. Bewertung von "La guerre civile en Algérie" im Hinblick auf eine mögliche deutsche Übersetzung: Die Arbeit ist methodisch innovativ, zugleich bietet sie eine empirisch gesättigte umfassende Einführung in das Algerien der Gegenwart. Diejenigen, die sich in Deutschland mit gegenwärtigen Kriegen und ihren Ursachen beschäftigen, werden nicht umhin können, diese Arbeit mit großer Priorität zu rezipieren. Für Regionalforschung zum Maghreb und für die an Algerien interessierte Öffentlichkeit wird diese Arbeit auf längere Zeit ein "muß" bleiben. Dies wird indirekt dadurch bestätigt, daß Routledge meinen Informationen zufolge eine englische Ausgabe vorbereitet. Allerdings ist es auch ein Buch, das dem Leser und der Leserin einiges abverlangt, u.a. daß man sich auf konkrete Details der algerischen Gesellschaft einläßt und sich bei der Lektüre ein komplexes Bild Algeriens erarbeitet. Dies wird dadurch erleichtert, daß Martinez jeweils die notwendigen Hintergrundinformationen in knapper Form liefert und nicht auf einer sicherlich größeren Informationsbasis der französischen Leserschaft aufbaut.

Außer dem hier ebenfalls erwähnten Buch von Ruf gibt es auf dem deutschen Büchermarkt nichts Einschlägiges, was nicht zuletzt auch daran liegen dürfte, daß Algerien aus vielfältigen Gründen bislang kein touristisches Ziel ist. Somit spricht eigentlich alles für eine Übersetzung dieser Studie. Allerdings mag der Umfang des Buches mit über 400 Seiten abschrecken. Hierzu ist anzumerken, daß die dokumentarischen Anhänge für eine deutsche Ausgabe entbehrlich sind. Bei sorgfältiger Lektüre stößt man auch darauf, daß das Buch nicht so sorgfältig lektoriert worden ist, wie man sich das wünscht. Einige Referenzen lassen sich nicht zurückverfolgen, was wahrscheinlich daran liegt, daß einzelne Kapitel bereits als Arbeitspapiere verbreitet wurden. Eine neue sorgfältige Lektorierung des gesamten Buches ergäbe sicherlich auch einige Kürzungsmöglichkeiten (etwa 5%) wegen leichter Wiederholungen, womit das Buch sich von oben der dreihundert Seiten Grenzen nähern würde. Ebenso gehe ich davon aus, daß man bei dem Autor im Falle einer Übersetzung ein aktualisierendes Postskriptum einwerben könnte.

Hamburg, 31. Dezember 1998
Peter Lock Kritik erwünscht !!!